Neue Mobilität: Nachfrage-orientierte Bedarfssysteme im ÖV

 
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Die Corona-Pandemie stellt in vielen Bereichen unseres täglichen Lebens ein sehr disruptives Ereignis dar. Auch die Frequenzen im Kollektivverkehr wurden stark und nachhaltig beeinflusst. Während des Lockdowns waren die Menschen aufgefordert, zu Hause zu bleiben und den öffentlichen Verkehr, nur wenn unbedingt notwendig zu benutzen. Die Benutzerfrequenzen brachen in der Folge ein. Der ÖV verlor bis zu 90 % seiner Fahrgäste. Im Juli 2020 wurde im öffentlichen Verkehr zudem gesamtschweizerisch die Maskenpflicht eingeführt. Ganz allgemein ist wieder eine vermehrte Tendenz hin zu den Privatfahrzeugen zu beobachten. Zu diesem Thema hier ein Blogbeitrag von Carmen Sprus.

Wir sind gespannt, wie sich die staatlichen Abgeltungen (gemäss periodischen ÖV-Angebot-Bestellungen der Städte und Kantone) im Verhältnis zu den Fahrgast-Frequenzen (und damit die Fahrt-Finanzerträge) entwickeln. Das Mobilitätsverhalten hat sich ganz offensichtlich zugunsten einer vermehrten Autonutzung verschoben. Auch der Velo- und Fussverkehr haben markant zugenommen. Realistisch betrachtet kann es Jahre dauern bis der Kollektivverkehr seine während der Corona-Krise verlorenen Marktanteile wieder wettmachen kann. Ebenso kann es etwas länger dauern, bis ausländische Touristen wieder in die Schweiz strömen und in grossem Mass Bahnen, Trams, Busse, Schiffe und Seilbahnen auslasten.

In den USA sind die TNC Transport Network Companies (Uber, Lyft, etc.) mit neuen Geschäftsmodellen vehement daran, den klassischen Public Transit aggressiv anzugreifen. Stichworte sind ‘last mile’, Randstunden-Angebot und Angebote in Randgebieten oder auch Heimlieferdienste. Mit Marktdruck versuchen TNCs den Kollektivverkehr (zum Teil) zu ersetzen. Sie trumpfen dabei gegenüber den Fahrgästen mit besserem Komfort auf und individualisieren das auf die Masse ausgerichtete Linienangebot mit neuen Dienstleistungen (wie Tür-zu-Tür oder Guaranteed Ride Home, Gepäck-Lieferung, etc.); dies gegen einen geringen Aufpreis oder sogar preisgleich. Mobility On Demand (MOD) scheint in Corona-Zeiten einen neuen Aufschwung zu erfahren. Transportunternehmen schliessen sich Mobility as a Service (MaaS)-Plattformen an und werden so zu Datenlieferanten und Puzzlesteine im umfassenden Verkehrsangebot.

Wenn mit Sharing-Angeboten im Selbstfahr-Modus (Micromobility, Bikesharing, Carsharing, etc.) auch noch die Personalkosten des Fahrers oder Chauffeurs entfallen, tendiert das Fahrtangebot bald in Richtung Null-Grenzkosten, wie im Beispiel von waivecar.com. Mobilität wird zur «Commodity»: bequem, einfach verfügbar und eben sogar kostenfrei.

Im Verbund intermodaler Wegeketten (SmartWay, Whim, oder Free2Move, etc.) eröffnet sich einer Kundschaft, die raffiniert und smart mit dem Smartphone unterwegs ist, sich mit einem Klick die ganze Welt von schnellen, günstigen und bequeme Fahrten per App erschliesst. Allzeit mobil, ohne sich um einen Parkplatz zu kümmern oder sich für Pauschal-Abos im Voraus zu verpflichten. Mobilität “to go”, immer dann, wenn man sie gerade braucht, ohne sich mit einem klar definierten Lebensstil und vorgängigen Entscheiden über Jahre hinweg festlegen zu müssen. Flexibilität in Zeiten, wo Staat oder Arbeitgeber motivieren, vermehrt im Homeoffice zu arbeiten, öfter zu Hause zu bleiben. Digitale Datenmobilität substituiert physische Verkehrsbewegungen.

Axon Vibe, ein Luzerner Unternehmen mit weltweiten Niederlassungen, konzipiert und realisiert Kunden-Plattform-Schnittstellen z. B. für die Metropolitan Transportation Authority (MTA) in New York, sowie auch die SmartWay App für die SBB. Digitale Plattformen fokussieren heute – Corona-bedingt und Komfort-bedingt – auch auf ‘Crowd Detection’ (besonders während Hauptverkehrszeiten) und bieten Fahrgästen via Smartphone passende Alternativen: zeitlich, modal, intermodal, preislich, etc., Fahrten-Historie-bezogen via Pull-Meldung oder gemäss Nutzer-Profil zusätzlich als Push-Angebot. Oder das Zürcher Unternehmen datamap.io, welches ebenso App-basierte Tracking-Instrumente entwickelt (POSMO Segment und bald POSMO One) und sie vielfältig mit dem Angebot des Kollektivverkehrs verknüpft. Immer im Abgleich mit der Kundennachfrage für Fahrten.

Technisch anspruchsvoll, automatisiert und für den Kunden unbemerkt im Hintergrund, schaffen diese Mobilitätsplattformen eine neue Effizienz. Eingefahrene Gewohnheiten werden verändert (Nugging) und neue integrale Mobilitätswelten vorteilhaft erschlossen; damit idealerweise zu neuer Suffizienz (Genügsamkeit) motivierend. Der Nutzer kann Fahrten auch nicht antreten oder die Weg-Nutzung vereinfachen und verbessern; dabei sofort preisliche Vorteile geniessen und Zeit gewinnen. Was Google Maps dem Auto- und Radfahrer seit geraumer Zeit bietet, nämlich die laufende Streckenoptimierung mit prospektiven Staumeldungen und gewichteten Umweg-Empfehlungen, wird mit den neuen Plattformen auch für den ÖV Benutzer verfügbar.

In den 90er Jahren verkehrte der Telebus, ein Ruftaxi – vergleichbar etwa mit Uber, Lyft, oder MOIA – in verschiedenen Gebieten der Zentralschweiz und Zürich. (Heute ist telebus.ch nur noch in Kriens (LU) operativ). Damals war das Handy noch ein einfaches Natel. Erst 2007 brachte Steve Jobs mit dem iPhone ein Smartphone auf den Markt und eröffnete damit der Plattform-Ökonomie einen gewaltigen Innovationsschub. Postauto versucht(e) mit Publicar und Kollibri örtlich beschränkt und im Auftrag staatlicher Besteller, Mobility On Demand (MOD) anzubieten und zu bewirtschaften. Das Ganze jedoch sehr insular, unschlüssig, verhalten, eher führungslos konzipiert und organisiert.

Wie ist aber nun der aktuelle Stand bei nachfrage-orientierten Bedarfssystemen in der Schweiz, Europa und weltweit? Diese in den 90er Jahren von Prof. Heinrich Brändli, ETH-IVT lancierten und geprägten Systeme für den Linienbetrieb, Richtungsbandbetrieb oder Flächenbetrieb? Analyse und Evaluation, einerseits, andererseits Synthese und Konzeption mögen dem Kollektivverkehr mit nachfrage-orientierten Bedarfssysteme neue Dynamik verleihen, um einen bisher einzig liniengebundenen und dichte-gestressten Massenverkehr zu überwinden.

Städte, Kantone und der Bund müssen ihre Konzessionierten Transportunternehmen (KTU) vermehrt für eine Nachfrage-Orientierung im Verkehrsmarkt motivieren und gewinnen und ihre periodischen ÖV-Bestellungen prospektiv – das heisst mit Leadership – statt protektiv ausrichten. Denn ungeachtet dessen entwickelt der Konsument und ÖV-Kunde heute bereits ein neues Verkehrsverhalten, welches durch die Nutzung der neuerdings integralen Verkehrs-Systeme und digitaler Möglichkeiten via Apps und Smartphone, Richtung multimodales Verkehrsverhalten und intermodaler Wegketten geht.

Gleichzeitig bringen sich internationale Konzerne wie Google, Amazon, WeChat, etc. mit ihrem gewaltigen System- und Markt-Potential zunehmend in den Verkehrs- und Mobilitätsmarkt ein und punkten dort mit ihrer Kundennähe. Auf Mobilität spezialisierte Tech-Konzerne (MobTech) werden neue Akzente im Markt setzen und damit Kollektivverkehr-Besteller, ihre Konzessionierten Transportunternehmen (KTU), Individualverkehrs-Anbieter, Automobil-Hersteller und Original Equipment Manufacturers (OEM) mit neuen und disruptiven Dienstleistungen und Angeboten herausfordern. Das wird den kompletten Markt der Mobilität der Zukunft beeinflussen und für spannende Entwicklungen sorgen. #

Nachfrage-orientierte Bedarfssysteme im ÖV:

  • Neuartig – als Ergänzung oder Ersatz von Linienangeboten im ÖV – sind Nachfrage-orientierte Bedarfs-Systeme und -Angebote im ÖV sowie im Kollektivverkehr. Insbesondere in Randstunden und Randgebieten: Aufschlüsselung gemäss Heinrich Brändli

  • Im Linienbetrieb mit Fahrplan und Haltestellen, bekannt als Rufbus, siehe auch Kollibri, etc.

  • Im Richtungsbandbetrieb mit Fahrplan ab einigen bestimmten Haltestellen, mit individuellen Halten, z. B. Bürgerbus in Deutschland, etc.

  • Im Flächenbetrieb ohne fixen Fahrplan, Haltestellen gemäss Nachfrage und Tür-Service, bekannt als AST Anruf-Sammel-Taxi, z. B. Telebus, PubliCar, Uber, Lyft

  • Diese dynamischen ÖV-Angebote werden von klassischen Konzessionierten Transportunternehmen (KTU) wie SBB, Postauto, etc. – und neu auch von Transportation Network Companies (TNC) – als private Kollektivverkehrsanbieter (Uber, Lyft, MOIA, etc.) angeboten. Erst entsprechende Online-Plattformen, die mit dem persönlichen Smartphone zugänglich sind, ermöglichen es den Fahrgästen diese ÖV-Angebote digital, bequem, spontan und günstig zu nutzen.

  • Zukünftige Herausforderungen werden dabei auch automatisierte Fahrzeuge (AV Automated Vehicles) oder etwa Drohnen (UrbanAir Mobility) bilden.

    Hier noch ein Buchtipp zu diesem Thema: Three Revolutions, von Daniel Sperling und ein
    Interview mit Daniel Sperling zum Thema Shaping The Automated Future von Bloomberg TV.

Nachfrage braucht ein Angebot. Ein Angebot ist oft auch emotional motiviert:

  • Eine Nachfrage ohne Angebot gibt es nicht: Nachfrage bedingt also ein zuverlässiges Angebot. Nachfrage meint unterschwellig auch, dass diese nachfrage-gestützte Nutzung vernünftig, nachhaltig und notwendig sei. Verkehr und Verkehrsmarkt sind aber hochemotional. So werden die meisten schweren, geländegängigen SUVs in den Städten und Agglomerationen gefahren, nicht etwa in ländlichen Gebieten. Und so manche 1. Klasse Fahrt mit der Bahn ist komfort- und identitätsgetrieben. Anbieter versuchen mit hochpreisigen Produkten grössere Margen zu erwirtschaften, ganz legitim.

  • Der Verkehrsmarkt ist also immer ein Spannungsfeld von Angebot und Nachfrage. Die Nachfrage kann nicht isoliert und rein vernünftig betrachtet werden.

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SRF3 FOKUS MIT CONRAD WAGNER

Wenn Sie von Mobilitätspionier und Denkfabrikant Conrad Wagner mehr hören wollen, gehts hier zum SRF3-Interview von Hannes Hug.