Mobilität in Zeiten von Corona. Und danach?

 

Im Moment geschieht gerade Unglaubliches: 80 bis 90 Prozent weniger Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir werden gar dazu aufgefordert, den ÖV wenn immer möglich zu meiden. An den Zapfsäulen wird 50 Prozent weniger Benzin verkauft und der Flugverkehr bricht praktisch vollständig zusammen – 95 Prozent weniger Flugbewegungen. In Dübendorf ist fast die ganze Swiss-Flotte aufgereiht und stillgelegt. Der Verkehr ist praktisch von einer Woche auf die andere zum Erliegen gekommen. Diese Radikalität des Herunterfahrens hätten sich Fridays for Future und Grüne in ihren wildesten Träumen nicht vorstellen können.

© businessinsider

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Die Coronakrise zeigt uns einige Mechanismen im Zeitraffer-Effekt. Der drastische Zusammenbruch des Verkehrs erfolgte nicht mit gutmeinenden Aufrufen wie weniger reisen, das Auto stehen lassen, mehr Velofahren oder mehr Laufen. Die Regierungen haben direkt auf unsern Lebensstil Einfluss genommen. Bleibt zu Hause, geht nur für absolut dringende Besorgungen aus dem Haus. Haltet Distanz. Landesgrenzen geschlossen. Erledigt eure geschäftlichen Aufgaben, wenn immer möglich, von zuhause aus. Schulen und Universitäten geschlossen: Schülern und Studierenden wird der Stoff über Distanz vermittelt. 

Ein ausschweifend mobiler Lebensstil

Ein paar Massnahmen genügten, um unsern bisherigen Lebensstil drastisch auf den Kopf zu stellen. Dieser Lebensstil den man uns verordnet, ist geprägt von Stillstand, Rückzug. Ausgerechnet eine rastlose Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten immer mehr Bewegung, immer mehr Verkehr erzeugte, ist jetzt richtiggehend gegroundet. Eine Gesellschaft, die einem ausschweifend mobilen Lebensstil frönt. Kurz zum Weihnachtsshopping nach New York? It’s so easy. Zwei stark motorisierte Autos in der Garage? Eine Notwendigkeit. Die Malediven? In der globalen Welt praktisch um die Ecke. Eine Fernbeziehung zwischen Zürich und Berlin mit wöchentlichem hin und her? Inspirierend. Rasch einen Experten für ein 15-Minuten-Statement einfliegen? Qualitätsgewinn. Osterwochenende in Korfu? Familientradition. Mittlerweile sind für praktisch alle Gesellschaftsschichten die wochenendlichen Städtereisen mit dem Billigflieger zum Volkshobby geworden. Wie noch keine Gesellschaft vor uns, haben wir uns nach und nach Lebensformen angeeignet, die ungeheure Mengen an Verkehr generieren – mit entsprechenden Begleiterscheinungen. Seit über siebzig Jahren sind wir auf Expansionskurs. Jeder sich abzeichnende Engpass wurde immer mit noch mehr beseitigt. Milliarde um Milliarde in die Infrastruktur investiert. 

Auf Stand-by und trotzdem nicht immobil

Und jetzt sind wir, von einem Tag auf den andern, auf Stand-by geschaltet. Ist dieser Stillstand wirklich so total? Wir bewegen uns weniger, aber sind wir deswegen völlig immobil? Wir praktizieren andere Formen von Mobilität. Mobilität, die keinen Verkehr erzeugt. Viele Pendler erledigen ihr Arbeitspensum digital vom Home Office aus. Schulen und Hochschulen haben beeindruckend agil auf digital Teaching umgestellt. Videokonferenzen, die bis anhin ein stiefmütterliches Dasein fristeten, feiern Hochkonjunktur. Grossmütter unterhalten sich mit ihren Enkeln virtuos über Skype oder Facetime. Wir sind gerade dabei, neue Kulturtechniken  und Verhaltensschemen zu entwickeln und zwar mit bereits vorhandener Technologie. Technologie, deren Potenzial bisher nicht ausgeschöpft wurde. Kulturelle Barrieren bei Unternehmungen und Vorbehalte bei Bildungsinstitutionen wurden innert Tagesfrist gebrochen. Zum Beispiel die Zurückhaltung gegenüber Homeoffice oder die Sturheit der Schulen, die immer alle Kinder morgens um 8 in der Schule begrüssen wollten. Auch wenn zehntausende von Schülern und Studierenden sich zusätzlich durch die stark belastete morgendliche Rushhour kämpfen mussten.

Mobilität vom Menschen aus entwickeln

Was nehmen wir mit für die Zeit nach der Coronakrise? Könnten einige dieser neu erlernten Verhaltensschemen und Kulturtechniken entscheidend zur Reduktion von Verkehr und damit zur Verbesserung des Klimas beitragen? Der Soziologe Richard Sennett gibt in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger Gegensteuer: «Der Gedanke, dass eine Pandemie ein Testlauf für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel sein könnte, ist illusorisch. Beim Kampf gegen den Klimawandel geht es darum, die kapitalistische Gesellschaft umzukrempeln… ein bisschen Zuhausebleiben wird dazu nichts beitragen.» Gleiches gilt für die Entwicklung der Mobilität der Zukunft. Wir wollen nichts übers Knie brechen und bereits während der Krise die Konzepte für die Zeit danach entwickeln. Trotzdem: 2020 wird der CO2-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. «Diese Tatsache wird etwas mit uns machen», ist der Trendforscher Matthias Horx überzeugt. Werden wir künftig trotzdem noch mit der gleichen Unbeschwert- und  Zügellosigkeit Raubbau an unserem Planeten betreiben? Die Debatte um die Mobilität, um die Frage, wie wir unsere Städte, unsere Lebensräume gestalten, wird Schub bekommen.

Die Gestaltung der Mobilität der Zukunft wird menschenzentriert, vom Menschen aus entwickelt, erfolgen.
— Heinz Vögeli – denkfabrikmobilitaet.org

Wir werden gut daran tun, einige Erfahrungen aus der aktuellen Krisenzeit in diese Debatte einzubringen. So durften wir erfahren, dass sich viele Tätigkeiten erledigen lassen, ohne dass wir uns dazu von A nach B bewegen müssen. In den dafür notwendigen Technologien konnten wir unsere Fertigkeiten entwickeln. Digitale Technologien, besonders der Umgang mit Daten (Tracking, Tracing und Mustererkennung) wird rapide bedeutender. Die zentrale Erkenntnis aber ist, dass unsere Lebensformen und die mentalen Modelle die uns dabei steuern, ganz entscheidend die Mobilitätsformen und die Verkehrsmenge beeinflussen und prägen. Bis jetzt waren Diskussionen um Mobilität und Verkehr immer von der Technologie und der Infrastruktur geprägt. Die Gestaltung der Mobilität der Zukunft wird menschenzentriert, vom Menschen aus entwickelt, erfolgen. Technologie und Infrastruktur sind so zu gestalten, dass sie den Menschen ermöglichen, verschiedene Lebensstile zu praktizieren, um ihre Mobilitätsbedürfnisse mit einem markant tieferen Verbrauch an Ressourcen umzusetzen. Die bisherigen Mantra von Anreize schaffen und der Markt, der alles richten wird, sind dabei keine Optionen. Vielmehr klare gesellschaftliche Ziele und Rahmenbedingungen; eine Technologie, die von den Menschen her denkt, und entwickelt wird.

Es keimt die Hoffnung, dass die Erfahrung mit der Pandemie uns sorgsamer mit den Ressourcen unseres Planeten umgehen lässt. Auf die Frage, welche langfristigen Folgen die Pandemie auf uns haben wird, antwortet der Harvard Psychologe Steven Pinker zwar lakonisch: «Das meiste, was nun gesagt und geschrieben wird, wird sich als falsch herausstellen.» Schauen wir mal. Jedenfalls werden die Vierte Industrielle Revolution und die Klimaveränderung die künftige Mobilität weit stärker beeinflussen als die Corona-Pandemie. Als #DenkfabrikMobilität hatten wir bereits 2017 unser Manifest, ein Narrativ zur Mobilität der Zukunft publiziert. Anhand von zehn Chancen vermitteln wir ein Konzentrat unserer Gedanken, unsern Esprit und damit eine Einladung zum Weiterdenken. Aus heutiger Sicht, auch geprägt durch die aktuellen Erfahrungen, scheint dieses Manifest aktueller und relevanter den je. #